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Heidi U. Heinrichs

Heidi Heinrichs leitet die Gruppe „Energiepotenziale und Versorgungspfade“ am Institut für Energie- und Klimaforschung - Technoökonomische Systemanalyse (IEK-3) am Forschungszentrum Jülich GmbH. Ihr fachlicher Schwerpunkt ist die Energiesystemanalyse, derzeit mit Fokus auf das globale Energiesystem. Sie erhielt den ERC Starting Grant vom Europäischen Forschungsrat für das Projekt „Material Realizable Energy Transformation – Navigating the Material Bottlenecks of a Carbon-Neutral Energy System“ (MATERIALIZE). Ihr Fokus liegt dabei auf der Versorgungssicherheit für Deutschland und Europa. Im Interview gibt uns Heidi Heinrichs Einblicke in die Komplexität ihrer Forschung und deren Nutzen für die Energiewende.

Interview:

Woran arbeitest du gerade?

Heidi Heinrichs: Aktuell arbeite ich mit meiner Forschungsgruppe an verschiedenen Projekten im Themenbereich „globales treibhausgasneutrales Energiesystem“, im Moment noch mit einem besonderen Fokus auf Wasserstoff und Wasserstoffprodukte. Dabei interessiert uns besonders, wie Deutschland und Europa ihre Wasserstoffimporte gestalten können, um eine Situation wie aktuell mit Russland – also eine zu starke Abhängigkeit von einem Land – zu vermeiden.

Meine derzeitigen Projekte sind vielfältig. Die beiden wichtigsten sind aktuell der vom BMBF finanzierte „H2 Atlas Afrika“ und MATERIALIZE, das über einen ERC Starting Grant des European Research Council gefördert wird.

Für den H2-Atlas analysieren wir das Wasserstoffpotenzial zunächst im westlichen und südlichen Afrika, unsere Erkenntnisse stellen wir auf einer interaktiven Website zur Verfügung. Wir hoffen, damit Energiepartnerschaften mit Afrika zu unterstützen, weil dort die Bedingungen, etwa für Solarenergie, viel besser sind als in Deutschland. Parallel zu diesem Projekt gibt es auch eine Graduiertenschule in Westafrika, an der ich auch eine Vorlesung halte.

Bei MATERIALZE liegt der Fokus, wie der Name schon vermuten lässt, auf Materialien. Für eine treibhausgasneutrale Welt müssen die erneuerbaren Energien massiv ausgebaut werden. Diese Technologien sind teilweise sehr materialintensiv – oft mehr als konventionelle Energien. Eine weltweite Umstellung erfordert immense Mengen verschiedener Rohstoffe, von Eisenerz bis hin zu seltenen Erden. Insbesondere letztere gehören zu den sogenannten kritischen Materialien, die oft nur in wenigen Ländern gewonnen werden. Dies kann zu Engpässen führen, die die globale Energiewende gefährden. MATERIALIZE will diese Engpässe identifizieren und herausfinden, wie sie die globale Energiewende beeinflussen. Der Fokus liegt auf alternativen Energietechnologien mit unkritischen Materialien und deren Auswirkungen auf das Energiesystem. Wichtig ist hier, dass unsere Modelle und Daten detailliert genug sind. Nur so können wir verlässliche Aussagen machen.

Was treibt dich persönlich an?

Heidi Heinrichs: Ich möchte dazu beitragen, aus der Energiewende eine Erfolgsgeschichte zu machen. Sie wird heute oftmals, zumindest teilweise, als eine Geschichte des Verzichts dargestellt. Das ist sie nicht, das muss sie nicht sein. Und ich kann dazu beitragen, indem ich Wissen für die Entscheidungsträger zur Verfügung stelle: wissenschaftlich fundiertes Wissen für die Energiewende, robust und belastbar und klar kommuniziert.

Wissenschaftlich reizt mich dabei die Komplexität der Energiesysteme und ihre Verflechtungen mit den anderen gesellschaftlichen Sektoren. Wir müssen uns immer fragen, wieviel Detail nötig ist für unsere Modelle, welche Methode im einzelnen Fall die richtige: "If all you have is a hammer, everything looks like a nail", wie es in Maslow’s Hammer heißt.

Welche Herausforderungen siehst du für dich in der nächsten Zeit?

Heidi Heinrichs: Aktuell ist es eine große Herausforderung, geeignetes Personal zu finden. Und das, obwohl die Arbeitsbedingungen bei uns sehr gut sind. Wir haben ein tolles Team und alle haben Spaß an der gemeinsamen Arbeit. Wir haben immer auch die Entwicklung unserer Mitarbeiter im Blick, damit sich jeder bestmöglich entwickeln kann. Und es fehlt in unserem Gebiet definitiv nicht an spannenden Forschungsideen. Aber die Industrie kann höhere Gehälter anbieten – und planbarere Perspektiven.  

Was würdest du dir für deine Forschung in Zukunft wünschen?

Heidi Heinrichs: Ich wünsche mir mehr Verständnis dafür, dass das Energiesystem eine unglaublich komplexe Angelegenheit ist, und dementsprechend auch die Energiesystemanalyse. Nehmen wir ein typisches Beispiel unserer Arbeit, die Modellierung von Windturbinen in Europa: Wir beginnen damit mögliche Platzierungen zu identifizieren, indem wir Dutzende von geografisch hochaufgelösten Datensätzen hinsichtlich technischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Aspekte prozessieren und kombinieren, um am Ende präzise Geolokationen für potenzielle Standorte zu bekommen. Allein für onshore Windturbinen kommen wir dabei auf mehrere Millionen potenzieller Standorte in Europa. Für jeden dieser Standorte suchen wir automatisiert die optimale Windturbine aus und berechnen für jede dieser Windturbinen über Wetterjahre hinweg die mögliche Stromeinspeisung. Das resultiert in riesigen Datenmengen, die wir dann möglichst ohne Informationsverlust aggregieren müssen, damit wir überhaupt mit ihnen arbeiten können. Alleine für onshore Windturbinen in Europa erhalten wir so mehrere hundert Millionen Datensätze, die wir auf „nur“ Tausend für unsere Energiesystemmodelle reduzieren müssen. Und das ist nur für Europa und nur für eine Technologie im gesamten Energiesystem. Aber dies alles ist notwendig, um das Zusammenspiel der Technologien im Energiesystem belastbar abbilden zu können. Was ich damit sagen will: Es gibt für die Energiewende keine einfachen Antworten. Zu viele Menschen – auch Wissenschaftler – sind sich dessen einfach nicht ausreichend bewusst.

Und vor allem wünsche ich mir, dass meine Ergebnisse die Entscheidungsträger der Energiewende erreichen und überzeugen, denn genau dafür arbeiten wir, dafür wollen wir Wissen und Erkenntnisse (knowledge for action) generieren und zur Verfügung stellen.

Wo siehst du deine Disziplin in 5-10 Jahren?

Heidi Heinrichs: Die Systemanalyse muss sich viel mehr mit Unsicherheiten auseinandersetzen. Bisher fokussieren wir vor allem auf ausgewählte Szenarien. Die Systemanalyse muss aber vielmehr dahin kommen ganze Bereiche möglicher Zukünfte abzudecken anstatt einzelne Pfade zu analysieren. Nur so können wir die wesentlichen Stellschrauben sowie Herausforderungen und Chancen verlässlich identifizieren. Das umfasst beispielsweise auch den Einfluss vom Klimawandel auf unsere Energiesysteme.

Es wird enorm wichtig werden, für einzelne Technologien oder Technologiegruppen Kipppunkte zu identifizieren, Weggabelungen. Diese können durch alle möglichen Arten von Einflüssen ausgelöst werden: technologische Meilensteine, Klimawandel, Materialpreise, politische Umwälzungen, alles Mögliche. Beispielsweise sind die Kosten für verschiedene erneuerbare Energien in den letzten Jahren immer weiter gesunken, aber für keine Technologie so sehr wie für die Photovoltaik. Deshalb taucht Solarenergie nun stärker in unseren Zukunftsszenarien auf, auch in Regionen, die eher als gute Windregionen gelten. Wenn wir solche Kipppunkte systematisch identifizieren, können wir konkrete Wenn-Dann-Aussagen erarbeiten, die für Entscheidungsträger eine enorme Hilfe sein werden.

ORCID: 0000-0001-9536-9465