Die Energiewende integrativ denken
Die Erstellung und Analyse von Energieszenarien – eine essenzielle Methodik zur Unterstützung der erforderlichen nachhaltigen Transformation des Energiesystems – muss dem komplexen sozio-technischen Charakter dieses Systems gerecht werden. Es sind daher gleichermaßen technische, ökologische, ökonomische, institutionelle, organisatorische und soziale Aspekte – auch in ihren Wechselwirkungen – zu berücksichtigen. Im Helmholtz Forschungsprogramm Energy System Design (ESD) wurde von Forschenden des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), des Forschungszentrums Jülich (FZJ) und des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) ein integrativer Szenarioansatz entwickelt, der diesen Anforderungen besser gerecht wird als dies in den meisten der bislang vorliegenden und die Diskussionen dominierenden Energieszenarien der Fall ist. Der Ansatz besteht im Kern aus zwei Elementen: 1) der Entwicklung von sogenannten sozio-technischen Energieszenarien und 2) der Abschätzung der Wirkungen dieser Energieszenarien hinsichtlich Nachhaltigkeitsindikatoren. Das Ziel ist die Verbesserung der Entscheidungsgrundlagen für die nachhaltige Transformation des Energiesystems.
Die zukünftigen Energie- und Infrastrukturbedarfe hängen von nur schwer vorhersehbaren Rahmenbedingungen ab
Globale Entwicklungen wie z.B. eine Verschärfung aktueller Konflikte oder die künftige Entwicklung der Europäischen Union können die Zuwanderung und damit die Bevölkerungsentwicklung beeinflussen. Durch ihre globale Verflechtung hängt die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft auch von der globalen Stimmung auf den Weltmärkten ab. Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung haben deutliche Auswirkungen auf den Energiebedarf in Deutschland. Die hier möglichen unterschiedlichen Entwicklungen haben in den durchgeführten Analysen z.T. deutliche Unterschiede beim Endenergie-, Strom- und Wasserstoffbedarf in Deutschland sowie bei der installierten Leistung zur Stromerzeugung zur Folge. Es besteht daher die Gefahr, zukünftige Energie- und Infrastrukturbedarfe zu unterschätzen oder zu überschätzen, wenn in Energieszenarien nur eine Entwicklung von Bevölkerung und Wirtschaftsleistung zugrunde gelegt wird.
Die notwendige Elektrifizierung des Energiesystems erfordert erhebliche technische und infrastrukturelle Veränderungen sowie Entscheidungen zum Grad der Importabhängigkeit
Unabhängig von Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung sollte die Elektrifizierung von Produktions- und Transportprozessen im Zentrum von Transformationsstrategien stehen. Dies erfordert eine umfassende räumliche und zeitliche Flexibilität im Stromsektor. Die Elektrifizierung muss aus technischen Gründen durch die Nutzung von defossilisiert erzeugtem Wasserstoff ergänzt werden. Dieser würde aber zu drei Viertel importiert werden. Die Transformation des Wärmesektors verlangt hingegen ein Zusammenspiel von energetischer Gebäudesanierung, Energieträgerwechsel und Ausbau der Strom- und Wärmenetze. Durch diese direkte und indirekte Elektrifizierung des Energiesystems steigt der Strombedarf bis zum Jahr 2045 von derzeit ca. 600 TWh auf 1.100 bis 1.300 TWh jährlich. Daher muss der Ausbau der Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen in Deutschland beschleunigt werden. In den Szenarien wird von einem Anstieg der installierten Leistung an Photovoltaik bis 2045 auf 370 bis 435 GW, der Leistung der Windkraft an Land („onshore“) auf 210 bis 220 GW und der Leistung der Windkraft auf See („offshore“) auf 53 bis 70 GW als notwendig angesehen. In der Landwirtschaft und im Industriesektor werden jedoch auch künftig Treibhausgasemissionen anfallen, die nach heutigem Stand technisch nicht vermeidbar sind. Die Abscheidung von Kohlendioxid aus Kraftwerks- und Industrieprozessen, in denen vorwiegend Biomasse eingesetzt wird, und die direkte Abscheidung von Kohlendioxid aus der Luft, zusammen mit der geologischen Speicherung und Zyklierung von Kohlendioxid, wird als eine wesentliche Option gesehen, um ein Netto-Null Emissionsziel zu erreichen. Der Aufbau einer Infrastruktur für ein effektives Kohlendioxid-Management ist daher unabdingbar im Umgang mit unvermeidbaren Treibhausgasemissionen.
Die Berücksichtigung des Umweltschutzes und der Ressourcenschonung bei der Energiewende ist von großer Wichtigkeit
Die Analysen zeigen, dass ein klimafreundliches Energiesystem mit einem hohen Bedarf an „kritischen“ Rohstoffen einhergeht. Daher ist die Entwicklung geeigneter Strategien wichtig, diesen Bedarf umweltverträglich zu decken und geopolitische Risiken zu reduzieren. Ferner zeigt sich, dass durch die Transformation des Energiesystems nicht nur die Treibhausgasemissionen sinken, sondern auch andere Umweltwirkungen. Negative ökologische Nebenwirkungen betreffen jedoch u.a. den erforderlichen Flächenverbrauch und damit verbundene Nutzungskonflikte. Der Umbau eines Energiesystems erfordert somit nicht nur Infrastrukturen für ein effektives Kohlendioxyd-Management, sondern auch den Umgang mit nicht-klimarelevanten Umweltwirkungen.
Die gesamtwirtschaftlichen Effekte der Transformation halten sich in Grenzen; einer möglichen ungerechten Verteilung der entstehenden Be- und Entlastungen muss entgegengewirkt werden
Die Analysen zeigen, dass die untersuchten Transformationsstrategien zu einem Anstieg der inländischen Wertschöpfung im Energiesektor führen, aber gesamtwirtschaftlich zu keinem substanziell veränderten Arbeitskräftebedarf – trotz signifikanter Veränderungen in energieintensiven Industrien. Mögliche zusätzliche Belastungen für Haushalte mit geringem Einkommen – abhängig von sozio-ökonomischen Randbedingungen, die eng mit energiebezogenen Größen verbunden sind – sind zu minimieren, um die Akzeptanz der Energiewende nicht zu gefährden. Dabei wird der Grad der Umsetzung und Akzeptanz von Maßnahmen zur Internalisierung externer Kosten des Systems – eine wichtige Gelingensbedingung für eine nachhaltige Transformation – wesentlich durch politische und wirtschaftliche Entwicklungen sowie durch die Innovationsfähigkeit des Systems beeinflusst.